Ursprünge
Die narrative Medizin ist in erster Linie als Antwort auf eine Situation entstanden, die durch folgende Faktoren charakterisiert ist:
– ein Verständnis der Medizin, das den Patienten in seiner Gesamtstruktur an die zweite Stelle rückt, ihn aufteilt in Organe und von verschiedenen Spezialisten betreute Krankheiten;
– verstärkte Unternehmensorientierung der Gesundheitssysteme;
– das Altern der Gesellschaft, das einen Anstieg chronisch-degenerativer Erkrankungen zur Folge hat; im Umgang mit chronischen Krankheiten nimmt das tägliche Leben des Patienten und seiner Familienangehöriger einen grundlegenden Stellenwert ein;
– eine nicht korrekte Interpretation der Botschaft der EBM, die dazu führt, die Priorität auf die wissende, explizite und vernünftige Verwendung der geeignetsten wissenschaftlichen Evidenzen, die zur Verfügung stehen, zu legen und dabei zu vergessen, diese mit den Präferenzen des Patienten zu verbinden.
An ihrer Festlegung waren beteiligt:
– das Studium der Humanities in der Medizin
– die Allgemeinmedizin
– die Erzählungsforschung
– das Studium der Beziehungen mit dem Patienten.
Die Geschichten
Die Geschichte einer Krankheit bildet den Rahmen für einen holistischen Zugang zur Bewältigung der Probleme des Patienten und kann therapeutische oder diagnostische Hinweise erbringen.
Eine Geschichte zu erzählen bedeutet, einer Erfahrung einen Sinn zu geben, indem man eine oder eine Reihe von Tatsachen darstellt und dabei eine bestimmte Reihenfolge beim Wachrufen und Erforschen der Ursachen einhält.
Das Element der Narration ist ein grundlegendes Element der Medizin: einer ihrer Dreh- und Angelpunkte ist in der Tat die Anamnese, also die Vorgeschichte einer Krankheit. Aus der Perspektive der narrativen Medizin ist die traditionelle Krankengeschichte zugleich die Geschichte einer Krankheit, die vom Arzt erzählt wird. Dieser wiederum liest sie vom Patienten ab, trifft eine Auswahl aus den relevanten Ereignissen und klinischen Daten und ordnet sie neu an, will heißen er überführt sie in eine Akte, wobei er die Befunde der klinischen Untersuchungen, die Berichte anderer Mediziner und alle weiteren als objektiv eingeschätzten Daten hinzufügt.
Um in den Bereich der narrativen Medizin vorzudringen, ist es notwendig, dass die Krankheitsgeschichte, die vom Arzt erzählt wird, durch die Erzählung des Kranken und diejenige, die Arzt und Patient zusammen konstruieren, ergänzt wird. Dabei müssen alle Elemente berücksichtigt werden, die mit einer Geschichte zusammenhängen: die Geschehnisse, die Erzählzeit, die Handlung, die Bedeutung, der Erzähler und die Zuhörer.
Die Anwendung der Narration und des Zuhörens kann helfen, die auftauchende Diskrepanz zu überwinden, die entsteht, wenn man versucht, Forschungsergebnisse in der klinischen Begegnung anzuwenden: die narrative Medizin ist also kein Gegensatz zur EBM-EBN, sondern stellt eine unentbehrliche Ergänzung dar.
Notwendige Kompetenzen zur Anwendung der narrativen Medizin
Die Funktion dessen, der die Erzählung zusammenstellt, erschöpft sich nicht im bloßen Zuhören: in dem Moment, in dem eine Geschichte erzählt wird, öffnet sie sich für den Interpretationsprozess, und der Zuhörer nähert sich dem Erzähler an, um neue Blickwinkel zu entdecken, Lücken in der Erzählung aufzuspüren oder Fragen zu stellen und um am Ende der Unterredung zu einer neuen Version zu gelangen: eine Version, die ergänzt wird durch die neuen, aus dem Gespräch, gewonnen Informationen und dem Wissen des Fachmanns.
Die narrative Medizin erfordert ein aktives Zuhören, das den Erwerb neuer Fähigkeiten beinhaltet, um:
– die Hintergründe der Krankheit zu verstehen, aufzunehmen und zu interpretieren;
– die zeitliche Komplexität der klinischen Ereignisse zu erkennen und Zusammenhänge herzustellen;
– mittels dem Erzählen der Hintergrundgeschichten einen aufrichtigen Kontakt mit dem Patienten aufzubauen.
Eine Ausbildung zur narrativen Medizin sollte daher folgendes vermitteln:
– Fähigkeiten des counsellings (der Beratung), will heißen Instrumentarien, mit denen man in der Lage ist, mit Hilfe einer bewussten Anwendung professioneller kommunikativer Techniken die Erzählung zu fördern;
– Instrumentarien, die das Personal darauf vorbereiten, den erhaltenen Text richtig zu lesen, zu verstehen und zu interpretieren.
Anwendungsgebiete des narrativen Zugangs
Die Anwendungsgebiete des narrativen Zugangs in der Zusammenfassung von Trisha Greenhalgh, Autorin von Why study narrative?
Die Funktionen der Erzählungen im Diagnosegespräch:
– sie bilden die Form, innerhalb derer die Patienten ihre eigene Krankheit erkunden und beschreiben;
– sie ermutigen die Einfühlungsbereitschaft und begünstigen das Verständnis zwischen Arzt und Patienten;
– sie ermöglichen die Konstruktion von Bedeutungen;
– sie liefern hilfreiche Indizien und Klassifikationen.
Die Aufgaben der Geschichten innerhalb des Therapieprozesses:
– sie begünstigen einen globalen Zugang zur Behandlung;
– sie sind für sich genommen therapeutisch oder palliativ;
– sie können weitere therapeutische Möglichkeiten suggerieren.
Bei der Erziehung des Patienten und des Fachpersonals:
– werden die Geschichten wesentlich leichter erinnert;
– sind sie in der Erfahrung verwurzelt;
– erhöhen sie die Reflexionsfähigkeit.
In der Forschung:
– erschaffen Erzählungen auf den Patienten konzentrierte Eingriffe;
– fordern sie gewonnene Vorstellungen heraus;
– generieren sie neue Hypothesen.
Die Funktionen der Geschichten für die EBM:
– sie sind ein Instrument zur korrekten Formulierung der Fragestellung;
– sie helfen, die Evidenzen auf den einzelnen Patienten zu übertragen.
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