Erfahrung und Evidenz

In der Praxis können wir also EBM als die Integration individueller klinischer Erfahrungen und Fähigkeiten des jeweiligen Arztes mit der „externen Evidenz“ aus systematischer Forschung betrachten. David Sackett gliedert den klinischen Entscheidungsprozess in folgende Schritte:

  1. Umformulierung eines Informationsbedarfs in Form einer strukturierten Frage
  2. Systematische Suche nach der besten „Evidenz“ zur Beantwortung dieser Frage
  3. Kritische Beurteilung der erfassten Evidenz, deren Fundiertheit, deren Auswirkungen sowie deren Übertragbarkeit auf die klinische Praxis
  4. Ergänzung der Literaturbewertung durch die eigene klinische Erfahrung und durch die biologischen bzw. persönlichen Daten des Patienten, sowie Berücksichtigung der von Letzterem geäußerten Wertvorstellungen und Präferenzen bzw. der fallspezifischen Rahmenbedingungen
  5. Beurteilung der Effizienz und Wirksamkeit in der Umsetzung der oben beschriebenen Schritte, und Erwägung neuer Verfahrensweisen zur Verbesserung des Entscheidungsprozesses.

Wie bereits hervorgehoben setzt sich die EBM das vordergründige Ziel, die Versorgung des Patienten zu verbessern, und zwar durch eine Synthese der Erfahrungswerte (dem so genannten „internen“ Wissen“) mit den besten zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Informationen (dem „externen“ Wissen). Vor der Suche nach den neuesten Daten muss jede Fachkraft bereit sein, ihr bisheriges Verhalten in der Patientenversorgung zu überprüfen, und je nach Ergebnis der kritischen Beurteilung der wissenschaftlichen Daten dieses Verhalten entsprechend zu ändern.

Je nach Fragestellung und Problemerkennung kann das Prinzip der EBM auf verschiedene Berufsgruppen und Entscheidungsebenen im Gesundheitswesen angewendet werden. Im Bereich der Pflege spricht man beispielsweise von evidence-based nursing (EBN). Während sich das von Sackett geprägte Vorgehen ausdrücklich auf das individuelle Arzt-Patienten-Verhältnis bezieht, stellt der von Muir Gray (1997) formulierte Ansatz der evidenz-basierten Gesundheitsversorgung (evidence-based healthcare, EBHC) eine Erweiterung auf die Systemebene dar.

Der universelle Charakter der EBM-Grundsätze liegt im prospektiv festgelegten, transparenten Vorgehen, in welchem klar formulierte, klinische oder versorgungstechnische Fragen durch hochwertige Literatur möglichst verzerrungsfrei beantwortet werden.

Federführender Autor:
Dr. Horand Meier, Leiter der gastroenterologischen Funktionsdiagnostik, Abteilung Medizin I – Krankenhaus Brixen


Literaturhinweise