Die Zukunft der Medizin ist „sharing”

Was würde geschehen, wenn wir versuchten die Medizin so neu zu konzipieren, dass jede Begegnung mit den PatientInnen zu einer Erweiterung des Wissens führte? Und wenn dieses Ergebnis dann mit jedem Menschen, der unsere Hilfe sucht, geteilt würde? Wie kann es gelingen, sowohl die vorhandenen Optionen wie die Ungewissheiten und das, was am wichtigsten für jedes Individuum ist, zu verstehen und verständlich zu machen?

Das sind einige der Punkte, die Richard Lehman (Institute of Applied Health Research, University of Birmingham) in seiner Präsentation der neuen Serie beleuchtet, die JAMA Internal Medicine der Sharing Medicine widmet. „Die Artikel dieser Serie fassen zusammen, auf welche Weise Ärzte und Ärztinnen Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen innerhalb unserer Berufsgruppe und mit unseren PatientInnen  ausarbeiten; außerdem enthält jeder Artikel Empfehlungen, wie wir es besser machen könnten“, erklärt Lehman, um dann einige wesentliche Konzepte zu erläutern.

Shared decision making.  “Sinnvolle medizinische Begegnungen müssten mit einer ´Diagnose der Präferenzen` beginnen, bei der Arzt/Ärztin und Patient/in gemeinsam versuchen zu verstehen, aus welchen Gründen um Hilfe ersucht wird und welche Ergebnisse am wichtigsten sind“.

Wissen. Lehman beklagt die geringe Anwendbarkeit der Ergebnisse klinischer Studien auf die tägliche medizinische Praxis, die ungenügende Berücksichtigung, welche Ergebnisse am wichtigsten für die Menschen sind, und die Schwierigkeit, die Therapien miteinander zu vergleichen. „Anderer Wissenschaften wie die Astronomie, die Teilchenphysik und die Genomik gedeihen, weil die Daten der Forschung in Echtzeit geteilt werden. Im Vergleich zu den anderen Wissenschaften ist in der Medizin die gesamte Struktur der Erzeugung und Verbreitung von Wissen archaisch, schwerfällig und ineffizient“. Lehman stellt sich einen  positiven Kreislauf vor, der klinische Begegnungen, die Forschungsagenda und das Studiendesign bis hin zu Infographiken miteinander verbindet, auf denen die Behandlungsoptionen für ÄrztInnen und PatientInnen zusammengefasst werden.

Fähigkeiten (Skills) Wissen und das Vermögen, nach wissenschaftlichen Belegen zu forschen, sind von wesentlicher Bedeutung, aber auch Fähigkeiten wie zuhören und eine Diagnose formulieren zu können und eine effiziente Kommunikation mit den PatientInnen sind es. „Ohne diese Fähigkeiten haben beide Seiten Schwierigkeiten, das Wissen aufzunehmen und anzuwenden“. Nach Meinung Lehmans wird bei der kontinuierlichen medizinischen Weiterbildung zu wenig auf die diagnostische Erwägung geachtet. Er unterstreicht, dass „die prädiktiven Merkmale der Tests nicht aus dem Kontext gelöst werden können; jede vorgeschlagene diagnostische Strategie stellt eine Maßnahme dar, die dem Patienten/der Patientin erklärt und mit ihm geteilt werden sollte (…). Die klinische Versorgung besteht nicht darin, dass jemand vor die Wahl ´friss oder stirb` gestellt wird, sondern ist ein Prozess des Verstehens, der sich nach und nach entwickelt und vertieft“.

Überlastung. Wer Medizin praktiziert, ist kognitiver und emotionaler Überbelastung, einer Informationsflut und überzogenen Erwartungen ausgesetzt. Nach Lehman liegt der Schlüssel im Austausch mit Kollegen und Kolleginnen, „aber auch mit den Menschen, die wir medizinisch betreuen (…). Wenn unsere Beziehungen offener und mehr auf die gegenseitige Unterstützung ausgerichtet sind, können wir eine effizientere Versorgung gewährleisten und gleichzeitig das Gefühl von Überlastung und Stress verringern“.

Ohne die Bedeutung der umfassenden Verfügbarkeit von Daten und Informationen und der wissenschaftlichen Fortschritte zu unterschätzen, „müssen diese Fortschritte über einen gemeinschaftlichen Prozess des Verstehens erfolgen“, der ÄrztInnen und PatientInnen miteinbezieht. Ein Verstehen, das bei den Klinikern als Individuen beginnt und innerhalb der Gemeinschaft von „Lernen und Praxis“ und dann „bei jeder klinischen Begegnung“ mit den PatientInnen geteilt wird. „The future of medicine lies in sharing medicine”.

Der erste Artikel der Serie:
Tulsky  JA, Beach  MC, Butow  PN,  et al. A research agenda for communication between health care professionals and patients living with serious illness [published online July 3, 2017].  JAMA Intern Med. doi:10.1001/jamainternmed.2017.2005
Die Schlüsselbotschaft lautet, dass eine Verbesserung der Kommunikation bei schweren Krankheiten dazu beitragen kann, das Leiden der Menschen zu lindern.

Quellen und weiterführende Artikel
Lehman R. Sharing as the future of medicine. JAMA Intern Med. Published online July 3, 2017. doi:10.1001/jamainternmed.2017.2371
Steinbrook R, Redberg RF. Sharing medicine. A JAMA Internal Medicine Series. JAMA Intern Med. Published online July 3, 2017. doi:10.1001/jamainternmed.2017.2348