Eine ungewisse Diagnose und der Vorteil einer zweiten Meinung

Viele PatientInnen wenden sich an die Mayo Clinic, um eine Zweitmeinung einzuholen oder eine Diagnose bestätigen zu lassen, bevor sie sich wegen eines komplexen Krankheitsbildes in Behandlung begeben. Aus einer Studie, die vor kurzem im Journal of Evaluation in Clinical Practice publiziert wurde, geht hervor, dass in einem Fünftel der Fälle die endgültige Diagnose völlig anders als die anfängliche ausfiel.

Die Studie
Die retrospektive Studie betraf 286 PatientInnen, die sich im Zeitraum von zwei Jahren (2009-2010) nach einer hausärztlichen  Diagnose an die Mayo Clinic in Rochester (Minnesota) gewandt hatten, um eine zweite Meinung einzuholen. In 12 % (36/286) der Fälle bestätigte die endgültige Diagnose die erste; in 66 % (188/286) war sie gründlicher und in 21 % (62/286) unterschied sich die definitive Diagnose signifikant von der zu Beginn gestellten. Die Stärke dieser Studie ist, dass die an der Mayo Clinic gestellten Diagnosen von der Begegnung mit einem Internisten/einer Internistin ausgingen, der/die weitere Informationen vom Patienten/der Patientin, durch die Anamnese und die körperliche Untersuchung erhielt, während in anderen Studien die Krankenakten oder andere Quellen untersucht wurden.

Das bedeutet natürlich nicht, dass im Allgemeinen einer von fünf Fällen von einer falschen Diagnose ausgeht. Die von der Mayo Clinic untersuchte Auswahl betrifft Menschen, die sich wegen einer zusätzlichen Konsultation an ein renommiertes Krankenhaus gewandt haben.

Wie groß ist folglich der Umfang falscher Diagnosen? Man schätzt, schreiben die Autoren der von James Naessens, Forscher an der Mayo Clinic, koordinierten Studie, dass 5 % der Erwachsenen im Rahmen einer hausärztlichen Behandlung eine fehlerhafte Diagnose erhalten; 6 % bis 17 % der unerwünschten Ereignisse, die im Krankenhaus auftreten, seien auf diagnostische Fehler zurückzuführen, sowie 10 % der Todesfälle, wie bei Autopsien durchgeführte Untersuchungen nahelegen.

Vor Kurzem hat die National Academy of Medicine folgende Definition für Diagnosefehler vorgeschlagen: „das Ausbleiben einer gründlichen, rechtzeitigen Erklärung für das Gesundheitsproblem des Patienten/der Patientin oder die unterlassene Mitteilung dieser Erklärung an den Patienten/die Patientin“. Im Unterschied zu anderen, offensichtlicheren Fehlern „erregen Diagnosefehler weniger Aufmerksamkeit, weil sie schwieriger zu erfassen sind, nicht als ein dem System innewohnendes Problem betrachtet werden und das Gesundheitspersonal sie nicht als problematisch auffasst“, stellen die Autoren des Artikels fest. Aber wie entstehen Diagnosefehler? Laut einer Studie aus dem Jahr 2009, die in JAMA Internal Medicine (Schiff GD et al) erschienen ist, sind Diagnosefehler in 44% aller Fälle auf Laboruntersuchungen (ausgebliebene Verordnung oder Follow-up) und in 32 % auf die falsche Bewertung seitens des Arztes/der Ärztin (versäumte Berücksichtigung und Bewertung einer alternative Diagnose) zurückzuführen. Weitere Fehlerquellen sind mit der Anamnese (10 %) und der körperlichen Untersuchung (10 %) verbunden. Ein Drittel der Diagnosefehler könnte folglich mit anfänglichen Bewertungsfehlern verbunden sein.

Da der Erfolg einer Therapie von einer korrekten Diagnose abhängt, kann eine zweite Meinung „die mit diagnostischen Ungewissheiten verbundenen Gefahren mindern und die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern“, schließen die Forscher von der Mayo Clinic.

Quellen:
Zimmermann Young E. Mayo Clinic researchers demonstrate value of second opinions, April 4, 2017.
Van Such M, Lohr R, Beckman T, Naessens JM. Extent of diagnostic agreement among medical referrals. J Eval Clin Pract 2017 Apr 4. doi: 10.1111/jep.12747.
Schiff GD et al. Diagnostic Error in Medicine. Analysis of 583 Physician-Reported Errors. Arch Intern Med 2009;169(20):1881-7.

Zur Vertiefeung:<
Anatomie der Fehler, VMB, 5. April 2016
Fehldiagnosen unter der Lupe, 22. Oktober 2014
Jagd nach dem Fehler, 30. Juni 2015